Inspector Gowda, Mordermittler in Indiens drittgrößter Stadt Bangalore, soll die vermisste Tochter seiner Haushaltshilfe suchen. Zugleich verlangt ein komplizierter Mordfall seine ganze Aufmerksamkeit: In einer gut bewachten Gated Community wurde ein reicher Anwalt erschlagen. Beide Aufgaben sind ihm wichtig, für beide braucht er reichlich Vitamin B. Inspector Gowda hadert täglich mit seiner Ohnmacht im Großen und seiner Inkonsequenz im Kleinen - wie dem Umstand, dass er seine Ehefrau betrügt, seiner Geliebten nicht gerecht wird, seinem Sohn entfremdet ist. Aber wenn es ums Ermitteln geht, macht Borei Gowda keinerlei Kompromisse ...Für »Gewaltkette« recherchierte Anita Nair zwei Jahre lang und arbeitete bei der Sozialarbeits-NGO BOSCO mit, was zu den härtesten Erfahrungen ihres Lebens beitrug. Nair packt mit ausgefuchsten Genre-Mitteln und starker, eindringlicher Prosa ein schreckliches Thema an - Kinder als Ware. Trotz tiefster Empathie bleibt ihre Schilderung konkreter Gewalt stets zurückhaltend, frei von Voyeurismus und Pathos. Das ist große Literatur, sinnlich und düster, ganz dicht am realen Leben, voll erzählerischer Wucht: Verwoben mit der Ermittlung rücken faszinierende Handlungsstränge ins Bild, Facetten einer hochmodernen, aber kolonial tradierten, auf ethnischen und Kastenvorurteilen aufgebauten Gesellschaft mit krassen Hierarchien, zutiefst patriarchalen Normen und blühendem Raubtierkapitalismus: das urbane Indien heute.
buecher-magazin.deInspector Borei Godwa ist müde - von dem ganzen Schmutz, mit dem er sich als Mordermittler in Bangalore herumschlagen muss, und von den Erwartungen, die Ehefrau, Sohn, Geliebte und Kollegen an ihn stellen. Dann wird in einer gut bewachten Gated Community ein Anwalt erschlagen. Godwa wird mit den Ermittlungen beauftragt und sucht nebenbei noch nach der verschwundenen zwölfjährigen Tochter seiner Haushaltshilfe. In seinen Ermittlungen taucht er in alle gesellschaftlichen Schichten der Stadt ein. Anita Nair verbindet in "Gewaltkette" die Aufklärung mehrerer Verbrechen mit einer scharfsinnigen und düsteren Analyse der indischen Gesellschaft, in der die Folgen des wirtschaftlichen Booms ebenso verhandelt werden wie Korruption und Misogynie. Detailliert, dynamisch und lebendig erzählt sie, wie der Erfolg moderner Technologie und der neu entstandene Reichtum die Kriminalität anzieht und beides das Leben in Bangalore völlig verändert, während alte Hierarchien weiterhin die Gesellschaft prägen. Sie erzählt eindringlich von sexueller Gewalt gegenüber Kindern, ohne deren Schicksale auszuschlachten oder Voyeurismus zu bedienen. Es entsteht das komplexe Bild eines Landes, in dem Frauen und Kinder Waren sind, deren sich Männer aller Klassen und Kasten bedienen.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2017Jemand verdient daran
Anita Nairs Inspektor Gowda ermittelt in Bangalore
Die Geschichte spielt in Bangalore, der drittgrößten Stadt Indiens im Südwesten des Landes. Es ballen sich in der wuchernden Metropole um die zehn Millionen Menschen auf engstem Raum: bitterste Armut und Reichtum in gated communities, Verbrechen und machtlose Obrigkeit, ungebrochen patriarchalische Regeln und verzweifelte Auflehnung, Gewalt gegen Frauen, Mädchen, Kinder und Helfer, deren Einsatz wie ein Tropfen auf dem heißen Stein anmutet.
Davon erzählt Anita Nair, 1966 im indischen Bundesstaat Kerala geboren und in Bangalore lebend, die ihre Romane auf Englisch schreibt und mit ihnen internationale Anerkennung findet. Sie tut das mit vollem Einsatz an Sentiment, das auch die Sitten ihres Landes schlaglichtartig erhellt, in manchmal brutalen Schilderungen, um auf Untaten aufmerksam zu machen. Auf Deutsch heißt ihr im Original als "Chain of Custody" 2016 erschienener Roman "Gewaltkette".
Borei Gowda ist der Inspektor im Zentrum des Geschehens, ein Polizist aus Leidenschaft, so um die fünfzig. Man muss ihn mögen, schon seiner Unzulänglichkeiten halber - und ein bisschen, weil er auf seiner Royal Enfield Bullet durch die Straßen rast. Dauernd eckt er irgendwo an. Im Privatleben bekommt er seine zerrüttete Ehe samt dem schwierigen Sohn nicht mit den Bedürfnissen seiner eleganten vermögenden Geliebten unter einen Hut.
Auf dem Revier macht ihm sein unberechenbares Temperament immer wieder Probleme mit Unfähigkeit und Korruption, nicht zuletzt wegen seiner gelegentlich erratischen Ermittlungsmethoden. Gowda hat aber ein paar Getreue um sich geschart, er und die Seinen kämpfen bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung. Im vorliegenden Fall wird Gowda an einen Tatort gerufen: Ein bekannter Anwalt liegt mit zertrümmertem Schädel in seinem Haus in einer Luxusenklave, ertrunken in der Lache seines Bluts. Dass es sich um Mord handelt, ist evident. Gleichzeitig erreicht den Inspektor die Nachricht, dass die kleine Tochter seiner Hausbesorgerin verschwunden ist.
Was die beiden Geschehnisse miteinander zu tun haben, kristallisiert sich im Lauf der Story heraus. Die Verkettung der Gewalt führt zu Machenschaften des Kinderhandels, sie erfasst depravierte Existenzen und verschont nicht die Oberschicht, für die es um die Zwangsprostitution minderjähriger Mädchen geht, die für zahlende Kunden bereitgehalten werden.
Leider ist es nicht ganz einfach, die Fäden der Handlung samt den vielen Personen, die sich innerhalb von neun Tagen miteinander verschlingen, im Griff zu behalten. Zumal eine "Ich"-Figur, die sich Krishna nennt, eingesponnen ist und die einem aus dem Dunkeln heraus befehlenden "Thekedar" hörig ist. Es ist hilfreich, dass die Übersetzerin Karen Witthuhn im Anhang ein Glossar bereitstellt, das auch diesen indischen Begriff als "jemand, der daran verdient, Arbeitskräfte oder Material zu vermitteln", klarstellt.
Die Lösung des Knotens am Ende ist, nicht nur für die tapferen Ermittler, etwas unbefriedigend. Die Bekanntschaft mit dem schroffen Inspektor Gowda ist immerhin charmant.
ROSE-MARIA GROPP
Anita Nair: "Gewaltkette".
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Argument Verlag + ariadne, Hamburg 2017.
352 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anita Nairs Inspektor Gowda ermittelt in Bangalore
Die Geschichte spielt in Bangalore, der drittgrößten Stadt Indiens im Südwesten des Landes. Es ballen sich in der wuchernden Metropole um die zehn Millionen Menschen auf engstem Raum: bitterste Armut und Reichtum in gated communities, Verbrechen und machtlose Obrigkeit, ungebrochen patriarchalische Regeln und verzweifelte Auflehnung, Gewalt gegen Frauen, Mädchen, Kinder und Helfer, deren Einsatz wie ein Tropfen auf dem heißen Stein anmutet.
Davon erzählt Anita Nair, 1966 im indischen Bundesstaat Kerala geboren und in Bangalore lebend, die ihre Romane auf Englisch schreibt und mit ihnen internationale Anerkennung findet. Sie tut das mit vollem Einsatz an Sentiment, das auch die Sitten ihres Landes schlaglichtartig erhellt, in manchmal brutalen Schilderungen, um auf Untaten aufmerksam zu machen. Auf Deutsch heißt ihr im Original als "Chain of Custody" 2016 erschienener Roman "Gewaltkette".
Borei Gowda ist der Inspektor im Zentrum des Geschehens, ein Polizist aus Leidenschaft, so um die fünfzig. Man muss ihn mögen, schon seiner Unzulänglichkeiten halber - und ein bisschen, weil er auf seiner Royal Enfield Bullet durch die Straßen rast. Dauernd eckt er irgendwo an. Im Privatleben bekommt er seine zerrüttete Ehe samt dem schwierigen Sohn nicht mit den Bedürfnissen seiner eleganten vermögenden Geliebten unter einen Hut.
Auf dem Revier macht ihm sein unberechenbares Temperament immer wieder Probleme mit Unfähigkeit und Korruption, nicht zuletzt wegen seiner gelegentlich erratischen Ermittlungsmethoden. Gowda hat aber ein paar Getreue um sich geschart, er und die Seinen kämpfen bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung. Im vorliegenden Fall wird Gowda an einen Tatort gerufen: Ein bekannter Anwalt liegt mit zertrümmertem Schädel in seinem Haus in einer Luxusenklave, ertrunken in der Lache seines Bluts. Dass es sich um Mord handelt, ist evident. Gleichzeitig erreicht den Inspektor die Nachricht, dass die kleine Tochter seiner Hausbesorgerin verschwunden ist.
Was die beiden Geschehnisse miteinander zu tun haben, kristallisiert sich im Lauf der Story heraus. Die Verkettung der Gewalt führt zu Machenschaften des Kinderhandels, sie erfasst depravierte Existenzen und verschont nicht die Oberschicht, für die es um die Zwangsprostitution minderjähriger Mädchen geht, die für zahlende Kunden bereitgehalten werden.
Leider ist es nicht ganz einfach, die Fäden der Handlung samt den vielen Personen, die sich innerhalb von neun Tagen miteinander verschlingen, im Griff zu behalten. Zumal eine "Ich"-Figur, die sich Krishna nennt, eingesponnen ist und die einem aus dem Dunkeln heraus befehlenden "Thekedar" hörig ist. Es ist hilfreich, dass die Übersetzerin Karen Witthuhn im Anhang ein Glossar bereitstellt, das auch diesen indischen Begriff als "jemand, der daran verdient, Arbeitskräfte oder Material zu vermitteln", klarstellt.
Die Lösung des Knotens am Ende ist, nicht nur für die tapferen Ermittler, etwas unbefriedigend. Die Bekanntschaft mit dem schroffen Inspektor Gowda ist immerhin charmant.
ROSE-MARIA GROPP
Anita Nair: "Gewaltkette".
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Argument Verlag + ariadne, Hamburg 2017.
352 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Den Typus des knurrigen Ermittlers mit ungesunden Trinkgewohnheiten kennt Sofia Glasl aus Malmö oder Edinburgh, auch das Plotting erscheint ihr recht klassisch angelegt. Doch was Anita Nair in ihrem Krimi aus Bangalore über das indische Silicon Valley, erzählt, hat die Rezensentin so noch nicht gelesen: Inspektor Borei Gowda muss in einem dichten Netz von Menschenhandel ermitteln. Junge Mädchen werden verschleppt, um entweder an Bordelle und Erskort-Agenturen verkauft zu werden. Nair lässt sie Wort zu kommen, und schafft so ein beklemmendes Porträt der indischen Gesellschaft, die ihren neuen Reichtum nutzt, um Sklaven zu produzieren, wie Glasl erschüttert feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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